Prof.Dr.Thomas Strauss-Köln 1994 ” Die eruptive Erdverbundenheit”

Einige schweizerische und deutsche Kunstmuseen haben sich vor kurzem mit bedeutsamen Retrospektiven an ein eher soziologisches und psychologisches als ästhe-
tisches Phänomen, das bislang im Schatten des noch nicht Ausgesprochenen verblieben war, herangewagt. Es geht um die Paarbeziehungen, um das Zusammenleben von Künstlern, um ihre intime partnerschaftliche Zusammenarbeit und die gegenseitige Inspiration und damit um den oft verborgen gebliebenen Beitrag zur Kunstgeschichte, den einzelne, hinter dem Glanz ihrer berühmten Ehemänner, seit je bescheiden und unauffällig, arbeitende Frauen-Künstlerinnen geliefert haben. Eine Sonia Delaunay, Sophie Taenber-Arp oder Hannah Höch zum Beispiel; in Polen sagen wir eine Katarzyna Kobro und viele andere, zu Unrecht wenig bekannt gebliebene Persönlichkeiten.
Es war nicht nur Marianne Werefkin (1860-1936), die unzufrieden mit sich selbst und in den Konventionen Des Anfangs des Jahrhunderts verhaftet, glaubte, dass es nur einem Mann möglich sei, Neues zu schaffen. Sie unter- stützte nicht nur alle Versuche Alexej Jawlenskys, sie fasste auch seine Gefühle in Worte und schrieb dessen Glaubensbekenntnisse nieder. Erst 1938 entdeckte die Kunstgeschichte die großzügigen Manipulationen Monumentalität eines Auguste Rodin, Jackson Pollock oder Diego Rivera blieb der stille und bewegende Aufschrei einer Camille Claudel,Lee Krasner oder Frida Kahlo Jahrzehnte unbemerkt. Das Damenopfer nennt man im Schachspiel einige der entscheidenden Züge, die zum Überleben des Königs führen. Dem in dieses Spiel nicht Eingeweihten muss man dabei erklären, dass der König bei weitem nicht die wirkungsvollste Figur ist. Ohne andere Figuren, die sich für ihn opfern, ist er wahrhaft machtlos.

Die durch die erwähnten kunsthistorischen Ausstellun- gen der letzten Zeit bekannt gewordene Problematik ist sicher ohne grobe Vereinfachungen nicht auf einzelne weitere Künstlerehepaare heutzutage anzuwenden. Auch wenn sich über den im Jahre 1968 kulminierenden kämpferischen Feminismus bestimmt streiten ließe, sicher ist dass die Frauen von heute – die Künstlerinnen, verheiratet mit bekannten und bedeutenden Autoren inbegriffen – großen Wert eben auf die Abgrenzung, also auf die Selbstfindung legen. Sie sind einfach selbst- bewusster geworden. Wahrscheinlich verhält es sich so auch mit der Essener Bildhauerin und Malerin Barbara Ur.
Nicht nur rasante erzählerische Stil der Bilder ihres Mannes Andrzej Jan wirkt auf seine Umgebung bestimmend. Eines Stils, der monumental und irgendwie unbeugsam definitiv bleibt, auch dann, wenn er von den großen Themen der polnischen Geschichte – das direkte Engagement Andrzej Piwarskis für den Freiheitskampf in Polen nach 1981 bleibt auch im westlichen Exil wahr- scheinlich einmalig – zu expressiver Abstraktion übergeht. Barbaras Sohn, Tomasz, ist schon in Deutschland aufgewachsen. Die Impulse, die er von Kunstakademie Düsseldorf – auch nach Beuys, in den achtziger Jahren noch eine der lebhaftesten Werkstätten des experimentellen Tuns in Deutschland – nach Hause mit- bringt, inspirieren bestimmt den angeschlissen Künstlerkreis. Barbaras impulsive Unruhe, ihre ständige Unzufriedenheit mit sich selbst und ihr selbstkritisches Streben nach vorne bekommen so einen direkten, ummittelbar zugreifenden inspirativen Anstoß.
Die Ausgangssicherheiten erwarb sich Barbara Ur vor- Wiegend in der Beschäftigung mit der Keramik. Das eruptive Naturel der Künstlerin ist aber auch durch die relativ strengen, stabilen regeln einer alten Handwerkstradition, aus der man nur schwer aussteigen kann, nicht zu fesseln. Ehe sich hier die ersten Erfahrun- gen zu irgendeiner Stilroutine festigen können, bricht das ungehemmte Temperament in alle Richtungen aus. Holz, Stein, Metall und Textil, verschiedene Abfallprodukte durchbrechen die eventuelle Monotonie der sonst üblichen und eingespielten Tonformen. Die figurativen Remini-szenzen und der Reichtum an lebhaften Assoziationen breche den disziplinierten Vorstoß zum rein Funktionellen.

Die Faszination der expressiven Farbgebung und das Abenteuer der skizzenhaften Zeichnung am liebsten a la prima, mit einem voll in den Ölbrei eingetauchten breiten Pinsel, begleiten Barbaras künstlerische Vitalität von Anfang an. Die Ausflüge aus dem intimen Heimatnest Danzig nach Skandinavien und Deutschland (und später dann noch nach Spanien) erweitern den Horizont und ermuntern zum andauernden Experiment. Die Ausgangs-inspiration durch das Werk von Marc Chagall bleibt dabei durch Jahrzehnte erhalten. Durch die zur Selbständigkeit tendieren pastosen und dicken Malschichten, die in sich schon den Expansionsdrang des Temperaments befrie-digen, leuchtet immer Barbaras andauernde, Verzaubre rung durch das Einmalige, wenn wir es so wollen, das eigentliche Thema selbst durch.
Im Übergang von den achtziger in die neunziger Jahre beginnt sich die Vielfalt der thematischen und materiellen Experimente zu vereinfachen. Das Interesse an den Ausbruchsmöglichkeiten in alle sich abzeichnenden Richtungen bekommt jetzt einen konstanten Kern. Bei der Ästhetik der Schnelligkeit, der konzentrierten Kürze und der Hauptgegenstand von Barbara Urs Interessen, nämlich die skizzenhafte, mit minimalen Kettenschnitten aus dem groben Holzklotz herausgezauberte Andeutung der menschlichen Figur. Das Mythologische, es kann auch das anthropologische sein, ist in die Gegenwart umgesetzt und aktualisiert. Bevor wir uns aber in das Geheimnis der angedeuteten Symbole – ein Geheimnis, das Barbara Ur wahrscheinlich zur Zeit am meisten reizt – vertiefen, scheint es angebracht, hier einige Bemerkungen zum breiteren künstlerischen Kontext ihrer Werke vorzubringen.
Die zweite Hälfte der achtziger Jahre, die Zeit also, in der das Werk der Essener Bildhauerin die kompakte Sicherheit und die unverkennbare Handschrift annimmt, ist
Die Zeit, in der die moderne deutsche Kunst nach ein paar Jahrzehnten der totalen Abwesenheit aufs neue in die anspruchsvolle internationale Konfrontation zurückkehrt. Köln und Düsseldorf, d.h. die Essen am nächsten liegenden Großstädte, sind – neben Berlin – die Orte, wo die Ästhetik der “Neuen Wilden” sich zum ersten Mal und wahrscheinlich auch am stärksten zu Wort meldet. Braucht man hier unbedingt einzelne Namen, wie z.b. Lüpertz,Höckelmann, Baselitz, Immendorf, Dahn, Dokupil, oder Kiefer zu erwähnen?

Was aber bemerkenswert ist, ist die Beschränkung der neun deutschen Ästhetik auf die Malerei selbst. Der Autor dieser Zeilen arbeitete in der Zeit des größten Aufbruchs der Neuen Wilden an einem auf das zeitgenössische Plastik spezialisierten Kunstmuseum. So weiß er aus eigener Erfahrung, wie schwer es war, die Parallelität der neuesten malerischen Stilistik eben auf dem Gebiet der Skulptur und der Raumgestaltung zu beweisen. Auch bei der großartigen Ausstellungsbilanz “Skulptur des Expres-sionismus” (Los Angeles – Köln, 1984) wagte man es nicht, aus der sicheren klassischen Vergangenheit in die Gegenwart hinüberzusteigen. Die groben, mit ungeheurem Schwung gehauenen Holz-Torsi von Barbara Ur füllen also möglicherweise eben jenen freien Raum aus, der von ihren deutschen Kollegen in achtziger Jahren noch unausgefüllt blieb.
Die mit Polen, und besonders mit dem Danziger Kunst-raum verbundene Bildhauerin ist inzwischen auch in der deutschen Kunst, besonders mit der aus dem Ruhrgebiet kommenden, fest beheimatet. Ihr Werk spiegelt so neben der ursprünglichen polnischen Inspiration, auch die Grundzüge der künstlerischen Entwicklung der letzten speziell in Westdeutschland wieder. Beides vermischt sich und bildet so eine neue, eigenwillige und selbständige Einheit, was im Grunde die ideale Zielsetzung aller jemals aus ihrer Heimat Vertriebenen und zwangsläufig in einer neuen, vorerst fremden Umgebung angesiedelten Kultur-schaffenden ist.

Die Stimme Barbara Urs ist in diesem bunten Chor aller Mitteleuropäer unverkennbar. Der in den letzen zwei, drei Jahren sich abspielende Übergang von der expressiven Palette der achtziger Jahre zum gegenwärtigen einfachsten schwarz-weiß Kontrast oder sogar zur Farb-losigkeit der “reinen” Holzskulpturen deutet dabei einige sich überraschend abzeichnende neue Aufbau-gesetzmäßigkeiten an. Das anfängliche Chaos ist, so scheint es, definitiv gebannt. Der immer in geschlo-ssenen Dreiecken von oben nach unten kreisende Rhythmus der skulpturgellen Entfaltung kommt nun auch ohne die unterstützende, oft auch zu dominierende Farbe aus.
Das aus der Plastik verdrängte bunte Kolorit breitet sich dabei ungehemmt in die jedes Werk begleitenden malerischen Skizzen aus. Es scheint, dass das Schaffen von Barbara Ur in der letzten Zeit eine einprägsame Eigendynamik entfaltet hat. Die vor ein paar Jahren noch leise ausgesprochenen Worte der Erwartung haben sich mindestens teilweise erfüllt. Es reicht jetzt schon, mit offenen Augen hinzuschauen. Die ansteckende sinnliche Freude strahlt aus ihrem Werk mit voller Kraft, wobei einige weiter uns noch zu erwartende Überraschungen keineswegs ausgeschlossen sind.

Prof.Dr.Thomas Strauss-Köln 1994 ” Die eruptive Erdverbundenheit” aus dem Katalog “Barbara Ur “- Nationalmuseum Danzig 1994